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Heute Perspektiven für morgen schaffen. Das Friedensprojekt in Thüringen – Gastbeitrag in Politik und Kultur

Wo einst Mauern und Stacheldraht Menschen trennten, wo Minen und Wachtürme eine tödliche Grenze pflasterten, zieht sich nur 30 Jahre später entlang des ehemaligen Kolonnenweges ein grünes Band durch Europa. Aus der Vogelperspektive ist der ehemalige Eiserne Vorhang heute ein Streifen aus Wiesen und Wald, Feldern und Heidelandschaften, Feuchtgebiete und Seen. Immer noch erkennbar: Der schmale Streifen auf dem einst Soldaten patrouillierten und durchgängig von der Barentssee zum Schwarzen Meer auf über 12.500 Kilometern Lebenswelten unversöhnlich aufeinanderprallten.

Wer das Grüne Band erkundet, ob zu Fuß oder mit dem Rad, sichtet früher oder später Reste ehemaliger Grenzbefestigungsanlagen und Kreuze, die die Erinnerung an vergebliche Fluchtversuche und Unmenschlichkeit wachhalten. Ein Staat sperrte seine Menschen ein. Das wird in Thüringen nirgends anschaulicher als in den Ausstellungen und im Rahmen der Aufarbeitungsarbeit der Grenzlandmuseen und Gedenkstatten wie Point Alpha, Schifflersgrund, Mödlareuth oder Teistungen. Sie stehen stellvertretend für die Geschichte eines geteilten Europas und gleichzeitig für die europäische Friedensidee. Das Grüne Band ist heute nicht nur hier ein Symbol für ein gemeinsames Europa, das Grenzen überwinden kann, sondern weiter Mahnmal für die jahrzehntelange Teilung und damit prädestiniert als UNESCO-Weltkulturerbe.

Thüringen hat das Grüne Band bereits im Jahr 2018 zur Herzensangelegenheit gemacht und zum Nationalen Naturmonument erhoben. Ausschlagend hierfür war zum einen die immense Naturvielfalt. Im Schatten der Grenzanlagen und Wachtürme konnten sich über 1000 bedrohte Arten ansiedeln, darunter Schwarzstorche und Blaukehlchen, Gelbbauchunken und Wiesenknopf-Ameisenblaulinge. Auf seine Gesamtlange betrachtet verbindet dieser ökologische Korridor sogar Klima- und Vegetationszonen miteinander und zwar als lebendige Erinnerungslandschaft. Der ehemalige Todesstreifen ist zur Lebenslinie geworden. Diese Biotope und wertvollen Lebensräume zu bewahren, sie wie an einer Kette Perle für Perle zu erhalten, ist uns eine Motivation für das Nationale Naturmonument gewesen, das nun touristisch erschlossen und damit für jene, die Geschichte erfahren und Natur erleben wollen, in Wert gesetzt wird.

Die Stiftung Euronatur, der BUND, die Stiftung Naturschutz in Thüringen und viele lokale Beteiligte stemmen diesen Kraftakt: Verbindung schaffen und das Naturerbe sichern, bevor es zu spät ist. Je mehr Zeit vergeht, je unkenntlicher werden die Erinnerungen an den Herbst 1989, die mutigen Kräfte, die sich Freiheit erstritten, und der gemeinsame Wille zum Bewahren der Lebenslinie.

Heute, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution, sieht man diesseits und jenseits des ehemaligen Grenzstreifens zwar weiter die unterschiedlichen Kulturlandschaften. Steht man beispielsweise auf der Eisenacher Wartburg, die übrigens gemeinsam mit dem Nationalpark Hainich UNESCO-Welterbe ist, sieht man auf der östlichen Seite große Felder, ausgeräumte Naturlandschaften – ein Erbe der Kollektivierung der Landwirtschaft. Auf der anderen Seite zeigen sich vergleichsweise kleine, bäuerlich anmutende Schläge, mehr Landschaftselemente zwischen den Feldern und Flächen.

Kulturelle Erinnerungslandschaft bedeutet aber mehr als den Blick zurückwerfen und Orte, die zu einer Erinnerungslandschaft verschmelzen, zu kategorisieren. Die vielfaltigen Geschichten dieser Landschaft fordern geradewegs dazu auf, sich auseinanderzusetzen, nachzudenken, Anknüpfungspunkte über Heimat damals und heute zu finden. Hier sind das kulturelle Gedächtnis der Menschen und der Landschaft, die Brutalität und die Widersprüche des Grenzregimes eingewebt. Hier finden sich Spuren der individuellen und kollektiven Erinnerungen, an willkürliche Trennungen und geschleifte Dorfer ebenso, wie an über Nacht geteilte Dörfer wie Mödlareuth. Noch heute können hier Zeitzeugen berichten, wie ihr Schulweg damals von heute auf Morgen gekappt und Familien zerrissen wurden. Und gleichzeitig finden sich heute dies- und jenseits der ehemaligen Schlagbäume Möglichkeiten einer gesamtdeutschen Erinnerung. Als ein gesamtdeutscher kultureller Erinnerungsort mit seinen ganz unterschiedlichen und verbindenden Geschichten spricht daher vieles für das Grüne Band als Weltkulturerbe.

Die Bedeutung des Grünen Bandes als UNESCO-Weltkulturerbe setzt einen Perspektivwechsel voraus. Die kulturelle Erinnerungslandschaft hat das Potenzial als lebendige Erinnerungslandschaft für grenzüberschreitenden Austausch und Regionalentwicklung, für einen Impuls aus der Mitte der Gesellschaft das kulturelle und natürliche Erbe inmitten von Europa gemeinsam zu bewahren und zu entwickeln. Es hat damit im besten Sinne der UNESCO durch seinen außergewöhnlichen und universellen Wert das Potenzial als ein Friedensprojekt mitten in Europa.

 

Benjamin-Immanuel Hoff ist Minister für Kultur und Chef der Staatskanzlei des Freistaats Thüringen

Anja Siegesmund ist Thüringens Ministerin für Umwelt, Energie und Naturschutz