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„Sich kümmern, das ist der Kitt unserer Gesellschaft“ – Gastbeitrag im Freien Wort

Familie ist das Größte und Schönste im Leben. Derzeit aber jonglieren wir Eltern zwischen Homeoffice, Homework und Homeschooling auf Dauer schier Unvereinbares: Die Kolleginnen und Kollegen im Kabinett erwarten Präsenz in Terminen, gleichzeitig hängt die Schulcloud bei den Kindern zu Hause am Rechner und der Erinnerungsanruf für den Impftermin bei den Großeltern kann eigentlich auch nicht mehr warten.

Geduld war noch nie meine größte Stärke – in Zeiten der Pandemie wird sie täglich auf die Probe gestellt. Das geht uns allen so. Und es fehlt uns, Freunde in den Arm zu nehmen, zu den Großeltern zu fahren, ins Konzert, ins Lieblingscafé oder zum Sportkurs zu gehen.

Das ist nötig, weil wir so Leben retten, die Gesundheit anderer schützen, und Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen entlasten. Dafür stemmen wir gemeinsam diesen Kraftakt, denn jeder Einzelne, der dem Virus erliegt, ist einer zu viel. Man kann jenen, die seit Wochen in Krankenhäusern und Praxen Extra-Schichten schieben, in den Apotheken Masken verteilen oder als Lehreinnen und Lehrer die Angebote kindgerecht aufbereiten,  nur einen Riesenrespekt zollen für diesen Kraftakt. Diejenigen, die bis heute die Gefahr herunter spielen und nicht mal Maske tragen, haben es ihnen zusätzlich schwer gemacht.

Als Mitglied der Landesregierung kann ich für uns alle sagen: Keine Grundrechtseinschränkung fiel oder fällt uns leicht. Jede einzelne gehört deshalb auch immer wieder auf den Prüfstand. Mit Blick nach vorn muss es jetzt stufenweise in die Phase der Lockerungen gehen – ohne dass wir leichtsinnig werden.

Mit der aktuellen Verordnung haben wir einen Punkt geheilt, der eine unnötige Belastung für Familien war: So können sich Eltern jetzt mit einer festen Tandem-Familie in die Kinderbetreuung rein teilen. Denn Kinder brauchen Kinder, und Eltern brauchen andere Eltern, um schwierige Klippen gemeinsam zu umschiffen. Füreinander sorgen, sich kümmern – das ist der Kitt unserer Gesellschaft. Gerade jetzt! Klar ist: Der Lockdown trifft uns alle, aber unterschiedlich hart. Manche Kinder am Schulanfang verlernen das kleine Einmaleins. Die Jugendlichen der Abschlussklassen müssen sich für die Prüfungen trotz der schwierigen Bedingungen motivieren. Gerade sie plagen Zukunftsängste. Manchen fällt zu Hause die Decke auf den Kopf – oder sie bekommen nicht die Förderung, die sie brauchen. Wir müssen vor allem die im Blick haben, die wegen schlechterer Lernbedingungen derzeit zu wenig gefördert werden. Wo zuhause ein guter Ausgleich zum Schulausfall nicht möglich ist und/oder technische Voraussetzungen nicht vorhanden sind.

Für sie sind zwei Dinge jetzt besonders wichtig: Eine Perspektive dafür, wann zumindest Wechselunterricht begonnen werden kann und eine gezielte technische Unterstützung. Das heißt für jedes Kind den Rechtsanspruch auf ein digitales Endgerät mit Unterstützung des Bundes umsetzen.

An den Küchentischen in Thüringen wird derzeit noch viel über das Wie-Weiter, über Zukunftsängste gesprochen. Bei der Unternehmerin, die auf die zugesagte Novemberhilfe des Bundes wartet. Beim Soloselbstständigen in der Kulturbranche, der den letzten Auftrag vor vielen Monaten hatte. Es fragen sich aber auch die Pflegebedürftigen in den Heimen und die Krankenschwestern auf der Intensivstation: Wann? Dass die Novemberhilfen im Februar noch nicht ausgezahlt sind, ist absurd. Jetzt müssen die Bundesmittel endlich fließen.

Große Begegnungen in Kulturhäusern wird es vorerst nicht geben, aber das Programm Chancengeber der Landesregierung kann eine Brücke sein. Und in den Heimen müssen wir die Älteren durch tägliche Testungen der Mitarbeitenden und Besucherinnen und Besucher noch besser schützen. Mehr testen heißt schneller wieder Begegnungen ermöglichen.

Was immer wir als Landesregierung anpacken: Die Menschen möchten zu Recht eine Perspektive, denn Krise kann kein Dauerzustand sein. Wir lassen uns von einem wissenschaftlichen Beirat unterstützen und die Cosmo-Studie der Universität Erfurt bestätigt, dass eine deutliche Mehrheit der Menschen sich einen Stufenplan wünscht. Dieser muss alle Lebensbereiche berücksichtigen und Öffnungsoptionen realistisch staffeln – nach Pandemiegeschehen und der Belastung des Gesundheitswesens. Ein Stufenplan motiviert und gibt Verlässlichkeit. Er zeigt den Weg in eine neue Normalität, bis im Sommer die Mehrheit geimpft ist.

Ich war kürzlich in meiner Heimatstadt Gera unterwegs –  mit Maske und Abstand. Es war einer der wenigen Termine vor Ort, die ich derzeit als Ministerin wahrnehmen kann. Wir wollten die Mobilität der Zukunft testen mit einem autonom fahrenden Kleinbus EMMA. Ein älterer Herr kam mit mir ins Gespräch. Nein, einen Impftermin habe er nicht. „Das bringt mich doch erst recht unter die Erde“, sagte der 83-Jährige. Wir redeten darüber, dass bereits jetzt Zehntausende in Thüringen die erste Impfung erhalten haben und er nicht nur sich, sondern andere schützen würde. Viele Fragen konnte ich beantworten, schließlich auch die, wie er sich einen Termin organisieren könnte.

Mir machte die Begegnung Mut. Unsere Demokratie lebt vom gemeinsamen Austausch, einander zuhören, abwägen und entscheiden. Er lässt sich impfen, denn er will seine Enkel endlich wiedersehen. Für mich gilt übrigens: Er und andere sind ganz klar zuerst dran: Die Älteren, die Ärzte- und Pflegerschaft und auch Lehrerinnen und Lehrer. Aber wenn ich an der Reihe bin, lasse auch ich mich impfen.

erschienen in der Tageszeitung Freies Wort am 06.02.2020