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Gemeinsam die Teilung überwinden und an die Transformation anknüpfen – Zum Tag der Deutschen Einheit

Lassen Sie uns gemeinsam 30 Jahre zurückblicken: Ich bin in Gera geboren und aufgewachsen. Am Tag der Deutschen Einheit, also im Jahr 1990, war ich 13 Jahre alt und lebte in einer Stadt mit 129.000 EinwohnerInnen. 1995 machte ich in Gera Abitur. Von diesem Jahrgang bin ich als eine der ganz wenigen in Thüringen geblieben. Bis heute sind mehr als vier Millionen Menschen aus den neuen Ländern abgewandert. Gera ist bis heute auf 93.000 EinwohnerInnen geschrumpft, 35.000 Menschen sind gegangen.

Noch heute denke ich am Tag der Deutschen Einheit nicht so sehr an jenen Oktober 1990, sondern habe die Friedliche Revolution und den Herbst 1989 in Erinnerung, die Menschen vor der Nikolaikirche. Ich denke an Kerzen und Gebete, an Kirche und Menschen in Stille und Spannung, an Proteste gegen die bedrückende Dunkelheit, die zugleich mit einer Hoffnung auf mehr Licht, also Freiheit, verbunden waren. Ich denke an den Tag des Mauerfalls. Der Tag, an dem die Menschen endlich erfolgreich und mutig dem diktatorischen System trotzend, den Weg in die Demokratie erkämpften. Friedlich. Der Mut jener, die in der DDR für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung auf die Straßen gingen, ihr Leben riskierten, indem sie die Stasi-Zentrale besetzten oder sich dem System auf jegliche Art widersetzen, ist heute für mich Anlass, Respekt auszusprechen und Dankbarkeit zu zeigen. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit lassen uns heute feiern.

Heute, im Jahr 2020, am Tag der Deutschen Einheit, sehen wir: Die Zeit nach 1989 führte für die einen zu Erfüllung, für andere zu einer gefühlten Entwertung ihrer Lebensleistung. Die einen reflektieren sie als eine Explosion ihrer Chancen in einer neuen, offenen Welt, während andere die Zeit mit dem steten Gefühl des Abgehängtseins verbinden. Sie führt bis heute zu der Frage, ob Gerechtigkeit hergestellt wird und gemeinsame Geschichte automatisch zu einem „Wir“ führt. Tatsache ist, dass wir uns immer noch auf dem Weg befinden, dem Weg zur deutschen Einheit. Tatsache ist, dass von einem „Ende der Geschichte“ nicht die Rede sein kann.[1]

Veränderungen bringen Chancen

Wir haben gerade hier in Thüringen vieles geschafft auf das wir heute stolz sein können. Inzwischen ist ein erfolgreicher Reindustrialisierungsprozess bewältigt. Fast neun von zehn der (insgesamt 60.000) Betriebe sind nach 1990 entstanden. Der Anteil der Industrie an der Thüringer Brutto-Wertschöpfung hat sich seit Mitte der 90er Jahre etwa verdoppelt. Mit 83 Industriearbeitsplätzen je 1.000 Einwohner liegt Thüringen auf westdeutschem Niveau.[2]

Wir haben zweitens eine Naturlandschaft, die viele Menschen nach Thüringen zieht. Diese Naturschätze besser zu schützen, als es vor über 30 Jahren noch der Fall war, ist unsere heutige Verantwortung. Ich erinnere mich gut an die Weiße Elster, die entlang der damaligen VEB Modedruck in schillernden Regenbogenfaben durch meine Heimatstadt Gera floss – das konnte nicht gesund sein. Ich erinnere mich an die Kohleschlote und die Hinterlassenschaften des Wismut-Bergbaus. Der letzte Kohleschlot in Thüringen ging 1998 vom Netz in Erfurt.

Wir haben drittens eine deutlich diversere Gesellschaft, vielfältiger in vielerlei Hinsicht. Mit einer beachtlichen Imternationalität an unseren acht Hochschulen und einer ausgeprägten regionalen Mobilität. Die Grundvoraussetzung, um nun auch ausländische Fachkräfte zum Zuzug und zum Bleiben zu bewegen, ist neben der Arbeit die soziale und gesellschaftliche Integration. Zugewanderte Menschen sind oft gut vernetzt und tauschen sich auch diesbezüglich über attraktive Zielregionen aus. Auch hier machen sich die Regionen auf den Weg.[3]

Gleichzeitig steht das vereinte Deutschland global betrachtet und eingebettet in ein Europa des 21. Jahrhunderts für das größte Friedensprojekt schlechthin. Auch das gehört an diesem Tag der Deutschen Einheit betrachtet. Wir in Europa.

Nichtsdestotrotz ist es noch ein weiter Weg. Vor 30 Jahren war die Einheit Deutschlands zwar formal hergestellt, aber der Einigungsprozess, ein beispielloser Transformationsprozess der alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste, hat damals erst begonnen. Wir wissen, dass es im Hinblick auf die notwendige Angleichung der Lebensverhältnisse, der Löhne, der längst überfälligen Rentenangleichung oder der Bekämpfung von Altersarmut große Ungleichheiten gibt. Wir wissen, dass nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur von Ostdeutschen besetzt werden.

Die Arbeitswelt hat sich insgesamt in Thüringen nicht nur in einem rasanten Tempo verändert. Sie tut es noch. Ganz abgesehen von den Herausforderungen der Corona-Krise – die Veränderungen halten an: Mehr Digitalisierung und der Wandel zu einer klimaverträglichen Wirtschaft. Wir stehen weiter mitten in einem großen Transformationsprozess.

Miteinander im Austausch bleiben

Wir haben große Fortschritte beim Umweltschutz bewältigt. Und wir haben uns mit dem Klimagesetz auf den Weg gemacht und den Rahmen für den Ausstieg aus schmutzigen Energiequellen definiert. Mit Sonne, Wind, Bioenergie und Wasserkraft setzen wir auf saubere Energie, auf Innovation mit dem Ausbau der Wasserstoffproduktion und Nutzung. Das alles hilft dem Klimaschutz, also dem Erhalt unsere Lebensgrundlagen, und unserer Wirtschaftskraft.

Und wenn ich heute – 30 Jahre nach der Einheit – an die Angleichung von Lebensverhältnissen nachdenke, denke ich nicht mehr automatisch an Ost-West. Ich denke an Stadt-Land-Unterschiede – auch in Thüringen. Lebenswerte Regionen kennen keine Versorgungsprobleme wie fehlende Internetanschlüsse oder mangelnden Zugang zur Gesundheitsversorgung. Ja, es gibt Erfahrungen des Abgehängtseins und des Verlusts von Lebensqualität, weil in kleinen Dörfern der Bus nicht mehr hält, der Dorfladen geschlossen ist und die Jüngeren weitergezogen sind.

Das schlägt sich auch in Umfragen nieder, wie unser Thüringen-Monitor zeigt: Wenn zwei Drittel der Befragten sagt, dass „Leute wie ich … so oder so keinen Einfluss darauf [haben], was die Regierung tut“ – dann muss uns das zu denken geben. Wir brauchen die lebendige Debatte. Miteinander im Austausch sein. Zuhören. Antworten geben. Das ist die Grundlage unserer demokratischen Kultur. Das ist unser Ausgangspunkt

Mir jedenfalls geht es darum, vor Ort Ansätze zu entwickeln, um Rechtsextremismus und allzu einfachen Antworten für unsere komplexe Welt zu begegnen. Warum Vielfalt in der Gesellschaft immer bereichernd ist. Wichtiger denn je sind dabei intakte öffentliche Räume und Institutionen, in denen man sich um die Zukunft austauschen und streiten kann, in denen man gemeinsam nach Lösungen sucht.

Der Schutz unserer Lebensgrundlagen: Vom Todesstreifen zur grünen Lebenslinie

Eine dicke Portion Zufriedenheit zum Schluss:  Ich bin – angesichts von 30 Jahren Deutsche Einheit – besonders froh über die gute Verbindung von Vergangenheit und Zukunft entlang des Grünen Bandes. Wir in Thüringen haben es nach einem langen parlamentarischen Prozess am historischen 9. November 2018 als Nationales Naturmonument ausgewiesen. Es bietet Erinnerung an die perfide Diktatur, Schutz unserer Natur verbunden mit regionaler Entwicklung. Es ist in seiner Ambivalenz von unvergleichlicher Strahlkraft.

Der Schutz unserer Natur, unserer Wälder, unserer Flüsse, unserer Artenvielfalt – all das ist den Menschen in Thüringen in den Jahren immer wichtiger geworden. Das Grüne Band ist dafür eine herausgehobene Erfolgsgeschichte

Sachsen-Anhalt ist unserem Beispiel gefolgt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ebenso. Die alte Teilung ist noch erlebbar entlang der ehemaligen Grenze. Der Todesstreifen von damals ist heute grüne Lebenslinie. Als Nationales Naturmonument in ganz Deutschland wäre das Grüne Band als gemeinsamer Erfahrungsort für gestern und heute angemessen geschützt. Und ich finde: Eine Auszeichnung als Weltkulturerbe der UNESCO hätte das Grüne Band auch verdient. Es ist das richtige Symbol für die Überwindung von Teilung und eine lebendige sich ständig weiter entwickelnde Naturlandschaft.

[1] Fukuyama, Francis (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?

[2] Quelle: TMWWDG.

[3] VGl. Jenaer Fachkräftestudie (2019): https://www.jenawirtschaft.de/fileadmin/user_upload/Bericht_Fachkraeftestudie_Jena_2030.pdf, S. 55.